Vier Jahre ohne Syrien

Vier Jahre ohne Syrien

(english)

Am 15. März dieses Jahres geht die syrische Revolution in ihr fünftes Jahr. Die vier letzten stellen uns vor schreckliche Zwischenergebnisse. Statt abzutreten und grundlegenden demokratischen Reformen eine Chance zu geben, kämpft Assads Regime noch immer gegen sein unweigerliches Ende an. Darunter zu leiden hat die Bevölkerung:

350,000 geschätzte Tote
300,000 Inhaftierte und Vermisste
500,000 schwer Verletzte, inklusive Frauen und Kinder
7 Millionen Geflüchtete innerhalb Syriens
4 Millionen Geflüchtete in anderen Ländern

after air strike 2 © Thomas Rassloff 2013-03
after air strike 2 © Thomas Rassloff 2013-03

Alles fing damals mit ein paar Kindern an, die an ihrer Schulmauer mit Sprühlack verkündeten, dass Baschars Zeit gekommen sei. Die brutale Reaktion des Regimes machte vielen Leuten in ganz Syrien klar, dass es tatsächlich an der Zeit war, fundamentale Änderungen in Syrien einzufordern. Aber auch das führte nur zu noch mehr Unterdrückung in Form von Verhaftungen, bald zu Schüssen auf unbewaffnete und friedliche Demonstranten. Als die ersten Offiziere die syrische Armee verließen, weil sie keine Staatsmacht unterstützen wollten, die auf jene Menschen schießt, die sie eigentlich beschützen sollte, begann sich die FSA, die Freie Syrische Armee, als loser Verband zu organisieren, der zuerst die Demonstrationen und dann Menschen in verschiedensten Teilen Syriens vor den Angriffen der Staatsmacht und ihrer Milizen, der Shabiha, zu schützen. Die friedliche Revolution wurde von Assads Antwort in den Krieg getrieben: Bombardierung ganzer Städte und Dörfer, neben Wohngebieten auch gezielt Krankenhäuser und Schulen, der Einsatz von Chemiewaffen und von so genannten Fassbomben, deren einziges Ziel nicht die Vernichtung strategischer Ziele, sondern die Ermordung möglichst vieler Menschen ist. Das Syrien, wie es einmal war, gibt es nicht mehr.

Assad, IS und worum ging’s noch mal?

Der 15. März 2011 markiert aber nicht nur den Beginn der syrischen Revolution, an diesem Tag legte Assad auch den Grundstein für seinen Propagandakrieg: Syrien werde von Terroristen bedroht. Allerdings wurden diese Terroristen erst an diesem Tag im Militärgefängnis Sednaya zusammengelegt, um dann in den folgenden Wochen per Dikret als religiös und politisch Inhaftierte amnestiert und entlassen zu werden. Erst dieser Schachzug ermöglichte den Aufbau der mit Al Quaida verbundenen Jabhat al-Nusra Front und der Abspaltung und Radikalisierung der extremistischen Gruppe um al-Baghdadi, die jetzt unter ihrem neuen Branding „Islamischer Staat“ sogar dafür sorgte, dass in den USA Stimmen laut werden, die eine Allianz mit Assad als kleineres Übel sehen.

Für viele Menschen außerhalb Syriens scheint dieser Krieg so kompliziert, so komplex, dass es unmöglich sei zu verstehen, wer für und gegen wen und was kämpft. Neben der Forderung politischer Rechte und Freiheiten, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte postuliert, der staatlichen Gewaltenteilung sowie der strikten Trennung von Religion und Staat, stand zu Anfang der Revolution auch immer im Zentrum der Forderungen, all das für ein vereintes Syrien zu erlangen. Heute sieht man auf einen Flickenteppich, nicht nur der militärischen Machtverteilung, sondern auch der verschiedensten Interessen aus dem In- und Ausland.

Family escaping Aleppo, September 2012 © Claudia Ruff
Family escaping Aleppo, September 2012 © Claudia Ruff

Und dabei gibt es doch Möglichkeiten: eine Flugverbotszone über ganz Syrien hätte bis vor wenigen Monaten noch einen großen Schutz der Zivilbevölkerung ermöglicht, die dann nicht mehr der willkürlichen Bombardierung ausgesetzt gewesen wäre. Mit den militärischen Siegen des IS sahen sich die alliierten Kräfte zu ausgewählten Luftangriffen ermutigt und sammeln gleichzeitig auch wichtige Daten zu Bewegungen im syrischen Luftraum. Warum verwendet man diese Informationen nicht einfach, um die Zivilbevölkerung zumindest frühzeitig über mögliche Angriffe zu warnen? Die dafür notwendige Infrastruktur wäre mithilfe der zivilen Helfer in Syrien schnell etabliert. Gleichzeitig kann man damit auch für alle sichtbar belegen, was schon lange klar ist: Auch wenn Assad kürzlich in einem BBC Interview noch zynisch scherzte, dass das syrische Militär nicht mit Kochtöpfen kämpfe – und sich damit auf die Fassbomben bezog, könnte man durch die Auswertung der vorliegenden und aktuellen Daten die nötigen Beweise sammeln. Diese, zusammen mit dem nachweislichen und mehrfachen Einsatzes von Chemiewaffen, der Verhinderung von Hilfslieferungen der UN in Gebiete, die von den so genannten „Rebellen“ kontrolliert werden, sowie der belegten systematischen Folter und Hinrichtung von Gegnern und Massakern an der Zivilbevölkerung, schließlich zu einer Anklage vor dem internationalen Gerichtshof führen kann. Die Zeit, Assad international zu ächten, ihn auf politischer Ebene nicht mehr als Repräsentanten Syriens zu sehen, sollte endlich gekommen sein.

War es das wert, waren es die vier Jahre Krieg, all die Verluste, all die Katastrophen, eine verlorene Generation, ein zerstörtes Land, Hass und Anschuldigung quer durch eine Gesellschaft, die früher so stolz darauf war, mit all ihren Unterschieden in Religion und Ethnie zusammenzuleben? Was wäre die Alternative – ruhig bleiben und weitermachen, in einem ungerechten und nur oberflächlich friedlichen Land? Und ist es die Revolution nicht ihren Kindern schuldig, den Weg zu Ende zu gehen, „Syria, it’s not over, until we win“, also „Syrien, es ist nicht vorbei bis wir gewonnen haben“, wie es ein Slogan zu den Veranstaltungen anlässlich des Jubiläums der Revolution postuliert?

„Vergieß nicht so viele Tränen für einen einzelnen Menschen!“

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Funeral of Tamer Alawam, September 2012 © Claudia Ruff

Heute, am 9.3.2015 jährt sich gewissermaßen auch der Tod eines Freundes. Vor zweieinhalb Jahren starb Tamer Alawam an den Folgen einer Granatsplitterverletzung, die er während seiner Arbeit an einem Dokumentarfilm über die syrische Revolution an der Front in Aleppo erlitt. Der ganze Druck aus dem Miterlebten der zwei Wochen davor und dem hilflosen Mitansehen eines ausweglosen Kampfs ums Überleben entlud sich bei mir in stundenlang andauerndem Weinen – unterbrochen nur von den Erklärungen der Menschen um mich herum, die jeden Tag Bekannte, Freunde und Familienangehörige verloren: ich solle nicht so viele Tränen für einen Menschen vergießen. Die Menschen in Syrien hatten schon im September 2012 fast keine Tränen mehr übrig, das Leid und die Trauer waren damals schon schlicht unerträglich.

Ende 2012 gab es plötzlich Anzeichen, dass die internationale Gemeinschaft eingreifen würde, dass ein Ende des Krieges möglich sei – und ich dachte einfach nur: warum nicht 3 Monate früher? Heute denke ich: wie lange denn noch? Was muss denn noch alles geschehen? Wie lange dauert es denn noch, bis Tamers und der Tod der anderen Abertausenden, bis das zerstörte Leben von Millionen von Menschen endlich einen kleinen Sinn ergibt und den Menschen in Syrien die Chance auf einen friedlichen Neuanfang gegeben wird? Ein Neuanfang in einem freien Syrien ohne Assad?

Action Syria – Tamer Alawam & Friends e.V.

Action Syria – Tamer Alawam & Friends e.V. hat sich Ende 2012 gegründet um die Revolution in Syrien durch eine vermittelnde Rolle zu unterstützen. Mit unseren Projekten möchten wir Menschen außerhalb Syriens verstehen helfen, was jene in Syrien bewegt, wofür sie sich einsetzen und womit sie zu kämpfen haben. Durch einen kulturellen Dialog auf der einen und praktischer Hilfe durch Spenden auf der anderen Seite hoffen wir beiden Perspektiven gerecht zu werden – den durch den Krieg und seine Folgen hilfsbedürftigen Menschen und jenen Menschen, die helfen wollen, aber nicht immer wissen, wie – sei es ideell oder finanziell.

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Ambulance from Germany in Syria 2014 © Feras

Angefangen haben wir mit dem Zusammentragen von einigen wichtigen Fakten, aber auch von Erinnerungen an das Syrien, das es nicht mehr gibt, an die Menschen, die wir verloren haben. In der zweiten Hälfte des Jahres 2013 haben wir angefangen, Sachspenden vor allem in Form von Winterkleidung zu sammeln und per Post an eine Klinik an der türkisch-syrischen Grenze zu schicken, die diese dann an bedürftige Geflüchtete übergab. Im Februar 2014 hatten wir mit Hilfe großartiger Einzelspender und tatkräftigen Engagements bei unseren Solipartys schließlich genug Geld zusammen, um einen Krankenwagen zu kaufen und zusammen mit einem PKW weitere Sachspenden, diesmal hauptsächlich medizinische Ausrüstung, an die türkisch-syrische Grenze zu fahren und dort alles an einen Partner zu übergeben, der die Verteilung innerhalb Syriens übernahm. Ein LKW, gefüllt mit Sachspenden, folgte wenig später. Ende 2014 konnte unser Partnerprojekt 3433 – The Road to Syria über eine Crowdfundingaktion so viel Unterstützung erhalten, dass insgesamt wieder drei Fahrzeuge mit medizinischen Sachspenden an die Grenze gebracht werden konnten. Seit April 2014 organisieren wir monatlich eine „Küche für alle“, Küfa, in der B-Lage in Berlin Neukölln, bei der wir vegan arabisches Essen gegen einen kleinen Obolus anbieten um damit unsere Projekte mitzufinanzieren und unseren Gästen einen unkomplizierten Rahmen zu bieten, mit uns ins Gespräch zu kommen und sich zu informieren. Im Sommer 2014 haben wir uns anlässlich der angespannten Lage für die Geflüchtetenprotste um den O-Platz und die Gerhard Hauptmann Schule in Berlin Kreuzberg mit der Spende der halben Küfa Einnahmen und freien Essens solidarisiert. Im Dezember 2014 haben wir geholfen, Kindern in Berliner Unterbringungen für Geflüchtete zu Weihnachten Freude mit gespendeten Kuscheltieren, Kinderbüchern und Spielzeug zu machen.

Seit Januar 2015 sind wir endlich vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt. Auf dieser Basis werden wir auch im fünften Jahr der syrischen Revolution weiter daran arbeiten, das Bewusstsein für den Konflikt und seine Konsequenzen präsent zu halten und, sei es auch nur im Kleinen, möglichst vielen bedürftigen Menschen in und aus Syrien praktisch zu helfen. Denn zu tun gibt es genug: vier Jahre ohne Syrien reichen, es ist Zeit, neu zu beginnen.